Skip to main content

Rechtsruck und Freiheitsruf. Zum 9.Oktober 2016 oder: Mit Pöblern und Brüllern kann man nicht argumentieren!

von Friedrich Schorlemmer

Es waren gruselige Bilder, die uns per TV von den die Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit aus Dresden 2016 per TV erreichten. Aus der Masse heraus brüllten Bürger gegen die Repräsentanten des demokratischen Deutschland „Volksverräter“ und „Wir sind das Volk!“. Steht dieses WIR auch für das , was in Clausnitz , in Freital oder Bautzen bedrohlich „die Würde des Menschen“ verletzende und der Fremdenfeindlichkeit freien Lauf lassende Weise zu hören war? Wer sich jetzt nicht diesen Stimmen und dieser Stimmung entgegenstellt und wer den Konflikt mit der AfD- oder gar PEGIDA-Denke gleichgültig, ängstlich oder feige scheut, macht sich an der Unterhöhlung unseres politischen Systems mitschuldig.

Erinnern an gutes Vergangene kann Kraft und Orientierung für Künftiges schenken –ohne Verbitterung oder Verklärung. Jetzt gilt es, klare Kante zu zeigen gegenüber allen, die unser freiheitliches, tolerantes, an Menschenrechte gebundenes Deutschland ablehnen. Zum 9.Oktober ist an die Freiheitsrufe, an den so gewaltigen wie gewaltlosen Weg jener unerwarteten 70.000 um den Leipziger Ring herum zu erinnern. Sie sprengten den erdrückenden Ring 40jähriger SED-Herrschaft. Der 9. Oktober ist ein Symboltag deutscher Geschichte, auch wenn die Deutschen in Freiburg, Nürnberg oder Köln das noch immer nicht so richtig mitbekommen haben. Aufstehen gegen Bevormundung und für Selbstbestimmung! Aus Wut wurde damals Mut, aus dumpfer Angst befreites Engagement, aus machtvoller Gewaltdrohung der Herrschenden die entschlossene Gewaltlosigkeit der Beherrschten. Delegitimierung der selbsternannten roten Herrschaften – durch den aus dem Volke kommenden, tausendfach skandierten Ruf „WIR sind das Volk!“.

Das strahlte ins ganze Land aus, wiewohl schon andere Orte zuvor Mut und Besonnenheit gezeigt hatten. Überall brodelte es. Überall wurde scharf geredet und nicht scharf geschossen. Nirgendwo Galgen aufgestellt, aber überall Mikrophone: „Demokratie- jetzt oder nie“. Das Volk war mündig, mutig, klug. Widerständig-trotzige Hierbleiber und sehnsüchtig weggehende Ausreiser trugen durch ihr Anschwellen zur Implosion des Systems bei, das eine historische Mission zu erfüllen geglaubt hatte. Die große friedliche Oktoberrevolution ist schließlich auch denen zu (ver)danken, die keine Schießbefehle mehr ausgeben ließen. Ohne den 9.10. kein 9.11.! Nun gilt es, die Demokratie nicht mehr zu erkämpfen, aber mit Einsatz, Kompetenz und staatsbürgerlich-freiheitlicher Gesinnung mitzugestalten. Auch mit Kritik!

Die Würde aller ist unantastbar. Wo der Staat die Würde schützt, dort ist auch der Schutz des demokratischen Staates geboten – durch so freie wie mitverantwortliche Bürgerinnen und Bürger. Feiern wir glücklich und dankbar diesen Paukenschlagtag der Freiheit, wo der Schlagstock nicht mehr gezückt worden war. Wir Deutschen sind allerdings noch lange nicht eins. Wir haben gegenseitig noch immer viele Vorurteile. Ich glaube, dass es unterschätzt wurde, dass ein längerer Weg vor uns liegen würde. Es ist in Deutschland vieles anders und gut geworden. Wir brauchen uns nur erinnern, wie das Land 1990 ausgesehen hat und das mit heute vergleichen. Und dann kann und muss man auch über die Potemkin’schen Dörfer der deutschen Einheit sprechen. So ist die Langzeitwirkung von Entmündigung, Demütigung und Bevormundung der Ostbürger unterschätzt worden, nicht zuletzt durch 40 Jahre Besatzermacht in der DDR . Und all die westdeutschen Erklärer, die nach 1990 uns Ostdeutschen erklären wollten, wie wir gelebt haben und nun zu leben hätten, sollten den Mund halten und genau hinhören. Rechtsnationales Gedankengut macht sich in Deutschland und Europa erschreckend breit. Anschläge auf Asylunterkünfte und Moscheen, Übergriffe auf Menschen, selbst auf Kinder, sind bedrückende Beispiele dafür. Dagegen sind rechtzeitig klare Grenzen setzen. Wenn Leute bei Übergriffen auf Ausländer auch noch brüllen “Wir sind das Volk”, dann wird mir schlecht. Dieser Satz steht für die friedliche Revolution gegen das SED Regime, für Freiheit und Toleranz damit auch für den Fall der Mauer nach 40 Jahren deutscher Teilung. Es ist endlich an der Zeit – auch in den Medien – den Rechten keine vordergründige Plattform für ihr Gedankengut zu bieten. Das bürgerschaftliche Engagement braucht mehr Zulauf – mit allen, die ehrlichen Herzens Menschen aus anderen Ländern, die vor Krieg und Terror zu uns geflohen sind, in unsere Mitte aufnehmen, in Ost wie in West. Man darf indes Verlustängste und die Mobilisierung von Neid durch Rechten nicht unterschätzen. Ein Hartz-IV-Empfänger oder jemandem, der nach dem Verlust seiner Arbeit kaum eine Alternative auf einen guten Arbeitsplatz hat, der ist anfällig für Sprüche wie «Da kommen Ausländer her und kriegen alles. Wir bekommen nichts, obwohl uns das zusteht». Diese Denkweise gibt es überall. Leider sind Emotionen durch Fakten kaum erreichbar, sowie Menschen sich als Verlierer und als Alleingelassene fühlen. Die soziale Frage ist nie vom Problem der Radikalisierung zu trennen. Verstehenwollen rechtfertigt aber keine einzige Haßparole und kein einziges ausländerfeindliches Gebrülle. Bundeskanzlerin Merkel hat mit ihrem Satz «Wir schaffen das» Mitempfinden mit Flüchtlingen in Not gezeigt. Die Regierung hat es weithin versäumt, ganz offen zu sagen, wie wir das schaffen können. Womit schaffen wir es und wie lange wird das dauern. Man muss in direkten Kontakt zu den zu uns gekommenen Fremden suchen, damit sie besser begreifen, was es heißt,
aus seiner Heimat fliehen zu müssen, um des nackten Lebens willen. Aber unser Land kann und wird unser Land und mit unserer Lebensweise bleiben.
Und vielfältiger werden!