Begegnungen vor geschichtsträchtigem Hintergrund

Sie heißen Sandra, Viktorija, Paulius, Tatsiana, Mihai, Majla – fünfzehn junge Stipendiaten der F.C.Flick Stiftung aus Litauen, Rumänien, Weißrussland, aus der Ukraine und aus Albanien treffen sich mit weiteren 78 Jugendlichen in einem kleinen Dorf an der deutsch-polnisch-tschechischen Grenze: Krzyzowa, dem früheren Kreisau. Hier, auf dem Gut von Helmuth James Graf von Moltke, traf sich in der Zeit des Nationalsozialismus der sogenannte “Kreisauer Kreis”, Regimegegner und Oppositionelle aus allen Gruppierungen der Gesellschaft, die eine zukünftige Staats- und Gesellschaftsordnung planten. Zahlreiche Mitglieder des Kreises, darunter Moltke selbst, wurden nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet. Heute befindet sich auf dem Gutsgelände eine Begegnungsstätte.

Erwartungen an die Begegnung

Die Jugendlichen, die sich im Sommer 2002 hier treffen, sind zwischen fünfzehn und vierundzwanzig Jahren alt. Sie haben die unterschiedlichsten Erwartungen an diese Begegnung. Maria Timenyk aus der Ukraine beschreibt ihre Erwartung so: „Hier erfährt man die Kultur, die Sitten, die Mentalitäten und die inneren Welten von Menschen unterschiedlicher Nationalität. Und es ist doch so, dass man ein Land am besten kennenlernt, wenn man seine Bewohner kennenlernt.”

Vertrauen ist erlernbar

Wo Menschen aus mehreren Ländern zusammenkommen, muss man sich über Sprachbarrieren hinweg verstehen: Vertrauen und Dialogfähigkeit bedingen einander und entstehen auch ohne sprachliche Verständigung. In der persönlichen Begegnung revidieren sich Vor-Urteile über Menschen anderer Nationen, anderen Glaubens. Die gemeinsame künstlerische Betätigung fördert die kommunikative Entwicklung. Im kreativen Gestalten entwickelt sich das meiste Potential für Individualität. Selbstvertrauen sowie gemeinsames Erleben in einer international zusammen gesetzten Gruppe tun das Übrige. Im künstlerischen Prozess geraten verfestigte Gruppenhierarchien durcheinander, Stereotype lösen sich auf, neue Einstellungen und Beziehungen wachsen. Die Sprachgewandtheit tritt in den Hintergrund.

Verstehen beflügelt Visionen

Die Vision eines gemeinsamen “europäischen Hauses” beflügelte die Gründer der Begegnungsstätte Kreisau: Polen, Deutsche, Holländer und Amerikaner, die seit Ende der achtziger Jahre hier eine internationale Begegnungsstätte planten und realisierten. Dazu wurde das Kreisauer Gut der Familie von Moltke restauriert. In den zurückliegenden Jahren profilierte sich die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung zu einem kompetenten Vermittler in Sachen guter europäischer Nachbarschaft.

Gemeinsam arbeiten bietet überraschende Einsichten

Workshops für Pantomime, Tanz, Theater, Kammermusik und Grafik stehen während des “Sommers in Kreisau 2002″ den Jugendlichen zur Auswahl. Die Workshops werden von deutschen und polnischen Künstlern geleitet.

Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Lagerfeuer, Auftritte und Präsentationen des Geleisteten gehören zum Rahmenprogramm. Ebenso ein Besuch Wroclaws/Breslaus und der Sporttag mit Volleyballturnier. Zum Abschluss werden die Arbeiten präsentiert. Die sechzehnjährige Weißrussin Tatjana Trofimowna Pryhozhaja schreibt über den Theaterworkshop: „Es stellte sich heraus, dass diese Werkstätte einem bei der Suche nach seiner eigenen Begabung hilft. Hier wird nicht bloß gezeigt, wie gearbeitet werden soll, sondern jeder kann selbst Ideen entwickeln und sie realisieren.” Selbstverständlich tauscht man Adressen beim Abschied aus.

Die 15 Stipendiaten der F.C.Flick Stiftung unter den Teilnehmern des „Sommers in Kreisau 2002″:

Catalina Costin (16, Rumänien, Kammermusik)

Sandra Kazlauskaite (15, Litauen, Theater)

Viktorija Neverauskaite (17, Litauen, Tanz)

Aksana Nikitsina (17, Weißrussland, Pantomime)

Paulius Petraitis (17, Litauen, Theater)

Vilma Pitrynaite (17, Litauen, Tanz)

Darius Pralgauskas (16, Litauen, Theater)

Tatsiana Pryhozhaya (16, Weißrussland, Theater)

Dalia Szluskaite (16, Litauen, Pantomime)

Darius Tereu (16, Rumänien, Kammermusik)

Anna Tikhonova (24, Weißrussland, Graphik)

Maria Timenyk (19, Ukraine, Pantomime)

Mihai Tymoszenko (Ukraine, Graphik)

Majla Zeneli (22, Albanien, Graphik)

Kateryna Zubachina (23, Ukraine, Graphik)

Statements von Teilnehmern

„Wenn man eine andere Welt sehen will, braucht man nicht viel zu reisen. Es reicht einfach nach Kreisau zu kommen. Hier erfährt man die Kultur, die Sitten, die Mentalitäten und die inneren Welten von Menschen unterschiedlicher Nationalität. Und es ist doch so, dass man ein Land am besten kennenlernt, wenn man seine Bewohner kennenlernt. Für mich bleibt Kreisau wie ein Märchen…”
Maria Timenyk (19, Ukraine)

„Für mich ist es bereits ein zweiter Aufenthalt in Kreisau und auch dieses Mal habe ich das Gefühl, dass wir während der Arbeit zu einer großen Familie geworden sind.”
Anna Tikhonova (24, Weißrussland)

Fakten zum Kreissauer Sommer 2002:
Zeit: vom 4. bis 18. August 2002
Teilnehmer: 94 Jugendliche aus 8 Ländern: Albanien (1), Deutschland (11), Litauen (13), Polen (34), Russland (2), Rumänien (4), der Ukraine (12), sowie Weißrussland (17)

Workshops:

Graphik: 24 Teilnehmer aus 6 Ländern
Leitung: Marek Stanielewicz (Graphiker, Dozent an der Kunstakademie Wroclaw
Kammermusik: 12 Teilnehmer aus 3 Ländern
Leitung: Mechthild Ortschig (ehemals 1. Geigerin der Staatsorchesters Stuttgart)
Pantomime: 19 Teilnehmer aus 6 Ländern
Leitung: Józef Markocki (Schauspieler, Regisseur, Pädagoge, Leiter des Zeitgenössischen Pantomimetheaters Wroclaw, Ewelina Ciszewska (Schauspielerin am Zeitgenössischen Pantomimetheater Wroclaw
Tanz: 22 Teilnehmer aus 5 Ländern
Leitung: Izabella Borkowska (Tänzerin und Tanzpädagogin, Warschau)
Theater: 17 Teilnehmer aus 5 Ländern
Leitung: Anna Michalak (Regisseurin, Warschau) und Janina Sasse (Studentin der Kunsttherapie in Ottersberg)