Das in der Potsdamer Lindenstraße 54 gelegene barocke Stadtpalais wurde im zwanzigsten Jahrhundert als Gefängnis für politische Gefangene des Dritten Reiches und später dann der DDR genutzt. Seit 1990 dient das Gebäude als Gedenkstätte und Museum. An diesem Ort sollen Schüler aus ganz Deutschland, insbesondere aber aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt die Möglichkeit bekommen, Geschichte lebendig zu erleben und Zeitzeugen zu begegnen. Dazu wurde der ehemalige Kapellenraum des Gefängnisses wieder hergerichtet und zu einer Projektwerkstatt für den Geschichtsunterricht umfunktioniert. Eine Gedenkstättenlehrerin betreut und organisiert das Unterrichtsangebot. Angeboten werden Projekte zur Lokalgeschichte, etwa eine Spurensuche zu dem Schicksal ehemaligen Insassen; Begegnungen mit Zeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus und vermehrt auch aus der Zeit der DDR, sowie Führungen durch die Gedenkstätte mit einem anschließenden Werkstattbesuch. Zu besonderen Anlässen wie etwa dem Jahrestag des Volksaufstandes von 1953 werden Sonderausstellungen für Jugendliche präsentiert. Insgesamt finden in jedem Jahr etwa einhundert Veranstaltungen statt. Im Schuljahr 2007/2008 besuchten insgesamt 123 Schülergruppen die Projektwerkstatt. Neben zahlreichen Schülerprojekttagen standen dabei in 92 Fällen Zeitzeugenbegegnungen auf dem Programm.

Grund und Umfang der Förderung

Die Flick Stiftung hat dieses Projekt ausgewählt, weil es in vorbildlicher Weise Demokratieerziehung für Jugendliche verwirklicht. Der Ort- ein Gefängnis mit langer und wechselvoller Geschichte- ist ideal. Hier können die Schülerinnen und Schüler lernen, welche Strukturelemente allen Diktaturen gemeinsam sind- etwa die Einschränkung bis hin zur Abschaffung von Bürger- und Grundrechten. In Zeitzeugengesprächen mit Opfern und Tätern und bei der Arbeit etwa an der Recherche der Biographien ehemaliger Gefangener werden die Jugendlichen ihre Lokalgeschichte neu erfahren und beurteilen können. Die Stiftung finanziert die Einrichtung der Gedenkstätte mit und trägt jährlich zu den laufenden Kosten bei.

Entstehungsgeschichte

lindenstrasse03Am 6. Juni 2002 wurde die Projektwerkstatt erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Ministerpräsident Dr. Stolpe, Oberbürgermeister Matthias Platzeck, die beiden Staatssekretäre Dr. Helm und Szymanski waren ebenso erschienen, wie der Stiftungsrat. Am 5. November 2002 schließlich konnte die fertig hergerichtete Projektwerkstatt in der ehemaligen Gefängniskapelle eröffnet werden. Herr Oberbürgermeister Jann Jakobs und Herr Bildungsminister Steffen Reiche sprachen bei dieser Gelegenheit zu den erschienen Gästen, unter denen sich viele Schüler der beteiligten Voltaire Oberschule befanden. Im Anschluss an die Eröffnung in der Gedenkstätte wurden auch die beiden dazugehörenden Räume in der Voltaire Oberschule eröffnet. Die Direktorin der Voltaire Oberschule, Frau Ortrud Meyhöfer, zerschnitt das rote Band und übergab die Räume ihrer Bestimmung. Die pädagogische Begleitung übernahm die Gedenkstättenlehrerin, Frau Cathrin Eich.

Hintergrund

lindenstrasse04Als im April 1996 eine Gruppe Berliner Jugendlicher aus dem rechtsradikalen Milieu im Rahmen eines so genannten sozialen Trainingskurses, Potsdam, die Gedenkstätte in der Lindenstraße 54 besuchte, kam es zu einem Ereignis, welches mir schlagartig bewusst machte, wie gut sich dieser Ort für Diskussionen zum Thema Demokratie und politische Gewalt eignet. Was war geschehen? Die fünf Jugendlichen und ihr Bewährungshelfer waren als Ortsunkundige mit einem Kleintransporter auf dem Weg zur Lindenstraße und passierten dabei ein besetztes Haus in der Potsdamer Innenstadt. Ohne zu ahnen, dass der Kleintransporter bereits in eine Sackgasse eingebogen war und nur noch wenige Meter zu fahren hatte, reckte einer der Jugendlichen bei dem Anblick eines Hausbesetzers die Hand zum Hitlergruss aus dem fahrenden Kleinbus. Man amüsierte sich, als der “Gegrüßte” sofort im Haus verschwand. Auch als der Bus kurz darauf hielt und niemand vor dem besetzten Haus zu sehen war, sammelte sich die Gruppe vor der Gedenkstätte immer noch übermütig und ausgelassen. Doch die Stimmungslage sollte sich schnell ändern. Einerseits stand das alte Gefängnistor weit offen und gab den Blick auf das ehemalige Zellengebäude frei. Für die Jugendlichen war es ja nicht das erste Mal, dass sie ein Gefängnis von innen sahen! Andererseits waren plötzlich wütende Schreie zu hören, die immer lauter wurden. Und dann passierte es: der mit dem Hitlergruss “bedachte” Hausbesetzer hatte sich einen Baseball-Schläger gegriffen und kam drohend auf den Jugendlichen zu, der ihn “gegrüßt” hatte. Ein auf dem Hof parkendes Auto wurde von beiden mehrmals umrundet, bis sie durch das geöffnete Tor den Gefängnishof wieder verließen und über die Fußgängerzone verschwanden. Nur wenige Minuten später kam der Gejagte wieder, er hatte es geschafft seinen Verfolger um einige Meter abzuhängen. Er bat eindringlich darum, im Gefängnis zur “Sicherheit” eingeschlossen zu werden. Auch der übrigen Gruppe war nicht mehr ganz wohl und so schlossen wir uns alle zusammen freiwillig im Gefängnis ein. Als sich nach wenigen Minuten die Situation wieder etwas entspannte, begann eine für mich bis dahin unbekannt offene und äußerst interessante Diskussion zum Thema politische Gewalt an diesem Ort. Beim Gang durch das Gefängnis wurde die Geschichte plötzlich erlebbar, Vorurteile und Ressentiments erwiesen sich als nicht mehr haltbar, der DDR-Geschichtsunterricht wurde hinterfragt, die Rolle des Erbgesundheitsgerichtes im NS-Regime stimmte plötzlich nachdenklich. Nach einer guten Stunde bestieg die Gruppe wieder den Kleintransporter,- nicht übermütig, sondern nachdenklich. Die bedrückende Kontinuität der Willkür verschiedener Diktaturen an diesem Ort und die persönlichen Schicksale der Betroffenen sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Themen der zahlreichen Seminare, Führungen und Veranstaltungen in der Gedenkstätte Lindenstraße 54 geblieben. Doch was den Jugendlichen 1996 aus ihrer eigenen Erfahrung im Bezug auf die geschichtlichen Ereignisse der letzten Jahre noch greifbar nah erschien, ist der nachwachsenden Generation nach dem Wechsel in das neue Jahrtausend nur noch schwer vermittelbar. Dieses war der Fördergemeinschaft Lindenstraße 54, dem Potsdam-Museum als Betreiber der Gedenkstätte und dem Bildungsministerium Anlass genug, um eine Projektidee zu entwickeln, die insbesondere Jugendlichen den Zugang zu dieser Thematik erleichtern soll. An einem Dezemberabend des Jahres 2001 fand dazu in einem kleinen Café in der Lindenstraße ein erstes Treffen mit den “Projektentwicklern” statt, dessen Ergebnis- der Plan der Einrichtung einer Projektwerkstatt für Jugendliche- die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten im ehemaligen Gefängnis zwingend erforderlich machte. Doch einen oder mehrere Räume für größere Gruppen im Zellenhaus zu finden, gestaltete sich denkbar schwierig. Die gesamte Hausanlage ist seit dem Fall der Mauer kaum verändert worden und steht unter Denkmalschutz. Das Zusammenlegen von Zellen durch den Abbruch von mehreren Wänden zu größeren Projektarbeitsräumen war weder gewollt noch möglich. So entstand schließlich die Idee, die ehemalige Gefängniskapelle des Amtsgerichtsgefängnisses wieder in ihrer ursprünglichen Größe als zentralen Raum der künftigen Projektwerkstatt zu nutzen und in einer nahe gelegenen Schule nach den eigentlichen Werkstatträumen Ausschau zu halten. So konnte nach kurzer Suche die Voltaire Gesamtschule für dieses Vorhaben gewonnen werden und es entstand die Variante, die Projektwerkstatt in der gleichen Straße an zwei verschiedenen Orten unterzubringen. Durch diese räumlich auf nahem Raum zusammen liegende Lösung bleibt das ehemalige Gefängnis in seiner überkommenen Struktur erhalten. Durch die restauratorische Freilegung der originalen Farbfassung im Bereich der Altarnische und durch die Einbeziehung der nachträglich eingebauten ehemaligen Zellen kann gerade in der ehemaligen Gefängniskapelle nun exemplarisch dargestellt werden, dass das Haus in der Vergangenheit eine erschreckende Metamorphose erfahren hat.

Potsdam, den 13.12.2002, für die Fördergemeinschaft Lindenstraße 54, Johannes Wittenberg